„Alle Menschen haben Angst, aber die Mutigen schreiten darüber hinweg, manchmal in den Tod, aber immer zum Sieg, lautete das Motto der königlichen Garde im alten Griechenland. Gibt es eine größere Herausforderung, als seine Angst zu überwinden?“ – Dale Carnegie
Der eine ist auf der Suche nach Aktion und geht klettern ohne Seil, der andere verlässt sein Zuhause nicht mehr, weil eine unsichtbare Wand ihn in seiner Wohnung gefangen hält. Du und ich – wir tragen beide Anteile in uns.
Eine alte Indianerweisheit, welche aktuell auf vielen Seiten im Netz kursiert:
Am Abend erzählte ein alter Indianer seinem Enkel: „Höre gut zu, mein Sohn! In unseren Herzen gibt es einen Kampf zwischen zwei Wölfen.
Der eine Wolf ist böse. Seine Waffen sind Angst, Ärger, Neid, Eifersucht, Sorgen, Gier, Arroganz, Selbstmitleid, Lügen, Überheblichkeit, Egoismus und Missgunst.
Der andere Wolf ist gut. Seine Waffen sind die guten Dinge, wie z. B. Liebe, Freude, Frieden, Hoffnung, Gelassenheit, Güte, Mitgefühl, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Vertrauen und Wahrheit.
Der Sohn überlegte lange und fragte seinen Vater: „Welcher Wolf wird gewinnen?“
Der Vater gab zur Antwort: „Der, den Du fütterst.“
Wie kommt es zu den zwei Wölfen, die uns lebenslang begleiten? Jahrhunderte meinte man, der Mensch sei von Natur aus schlecht. Als ich der Herr der Fliegen von William Golding las, war ich erschüttert und gleichsam wusste ein Teil in mir, dass es nicht die Wahrheit sein konnte. Henry David Thoreau war in der Neuzeit einer der Ersten, der dieses Weltbild öffentlich infrage stellte. Nach seinem Vorbild schufen Ghandi und Luther King den gewaltfreien Widerstand [8]. Auch gemäß der aktuellen Annahme, dass wir Menschen im Grunde gut sind, wie es Rutger Bregmann im gleichnamigen Buch beschreibt, sollte es eigentlich nur einen Wolf geben – und zwar den guten.
Ob gut oder böse, darauf kommt es mir in der Indianerweisheit nicht an. Im Allgemeinen betrachte ich die Dinge eher danach, ob sie uns dienlich sind oder nicht. Als Oberbegriffe für die unterschiedlichen Emotionen der Wölfe sehe ich zwei gegensätzliche Dinge, worum sich unser gesamtes Leben dreht. Tief im Kern des guten Wolfes steckt eine einzige Botschaft: Liebe. Und der andere Wolf? Man könnte meinen, dieser sei Hass. Denn ist nicht Hass das Gegenteil von Liebe? So sagt es zumindest der Volksmund. Nach Literatur von Neale Donald Walsh, ist Hass jedoch eine Folge von Angst. Angst – die Abwesenheit von Liebe oder als Folge dessen.
Beispiel zu den Folgen der Angst: Meine Nachbarn, die Klingelhöfers, haben aus ihrer Terrasse einen Wintergarten gebaut. Und dort, wo früher der Sandkasten war, haben sie jetzt einen Swimmingpool mit Gegenstromanlage installiert. Ich habe das nicht, und kann es mir auch nicht leisten. Deswegen habe ich Angst, dass ich nicht mehr meinen Status und Ansehen bei den anderen Nachbarn bekomme. Ich beneide die Klingelhöfers. Ach was: Ich hasse sie! Sie sind schuld, dass ich unglücklich bin. Ab heute rede ich nicht mehr mit ihnen, wenn überhaupt, dann nur noch über sie.
Die Klingelhöfers im letzten Absatz sind frei erfunden. Jedoch könnte die Geschichte so ähnlich real ablaufen. Handeln als Reaktion auf Neid. Ich spüre den Neid bei mir und bei Menschen in meinem Umfeld. So lange ich ihm einen Namen geben kann, fühle ich mich bewusst und kann gegensteuern. (Übrigens gehe ich heute Abend auf die Poolparty bei den Klingelhöfers. Willst Du mit?)
Woher kommt also der böse Wolf, bzw. wie entsteht Angst in uns? In meinem Sinn kann nur Licht Schatten werfen. Dort wo ein Objekt das Licht aufnimmt, befinden sich Objekte dahinter im Schatten. In der Übertragung auf uns Menschen, entwickeln wir nach dem Modell von C. Thomann schon im Kindesalter emotionale Schichten, um einen Mangel an Zuwendung zu kompensieren [1]. Ich bin sicher, dass wir es auch in den nächsten Jahren bei der Kindererziehung nicht schaffen, alles zu beleuchten. Dafür müssten wir wahrscheinlich selbst erleuchtet sein und keinen Schatten mehr werfen, bzw. erst einmal verstehen, dass es unser aller Ziel ist, erleuchtet zu werden.
Zurück zum Kern, zur Liebe. Warum wird der Kern im Laufe der Zeit immer wieder durch andere Schichten von Emotionen verdeckt? Der Mensch hat Grundbedürfnisse: Wasser, Nahrung, Atmen, Wärme, Schlaf, Pflege und Liebe [1]. Ja richtig, Pflege und Liebe sind nach Thomann Grundbedürfnisse. Bei mangelhafter Ernährung entwickelt der Körper beispielsweise Skorbut (Vitamin-C-Mangel) [2] oder Rachitis (Vitamin-D-Mangel) [3]. Ein Mangel an Zuwendung bedeutet Kompensationen in Schichten aus Schmerz, Aggression und Anpassung [1]. Das Ausbleiben dieser Bedürfnisse bedeutet möglicherweise gar den Tod [4, 5]. Wenn Du mehr über Emotionen erfahren möchtest, schau Dir meinen Beitrag zum Emotionalen Schichtenmodell an.
Wenn etwas fehlt, wird kompensiert. Im Extremfall geht es ums Überleben. Mir geht es um sehr viel mehr als das – um die Entfaltung des Individuums. Denn wir leben in Mitteleuropa und allgemein in westlichen Zivilisationen sehr sicher. Häufig sind die Grundbedürfnisse abgedeckt. Nur manchmal bleiben sie aus. Trotzdem hält der Mensch manche Kompensationen ein Leben lang aufrecht.
Es gibt in dem Sinn kein Schwarz oder Weiß. Es werden nicht alle Bedürfnisse erfüllt und es bleiben auch nicht alle Bedürfnisse unerfüllt. Einmal fragte ein Student Sadhguru was der Sinn des Lebens sei. Sadhguru beantwortete diese Frage nicht. Stattdessen sprach er: „Stell Dir vor, Du hättest bereits alles, was Du Dir wünschst. Alle Deine Bedürfnisse würden sofort erfüllt. Was wäre dann noch der Sinn des Lebens?“
In meiner Erfahrung ist Angst heutzutage etwas, das die Menschen gerne verbergen. Die wenigsten gestehen, wenn ihr Leben von Angst erfüllt ist. So war es bis vor ein paar Jahren zumindest bei mir: Ich ging zum Yoga, umarmte Bäume und dachte, wer ausschließlich positiv denkt, wird keine emotionalen Schmerzen mehr erfahren. Ich trieb es so weit, dass ich die Weisheiten von Erleuchteten nachplapperte, ohne es selbst erfahren zu haben. Ich schaute mit dem Verstand nur noch auf das „Positive“. In den Nächten wachte ich mit Panikattacken auf, weil ich mich tagsüber nicht mit meinen wahren Gefühlen auseinandersetzte. Meine Maske war perfekt. Heute sehe ich beide Seiten und ich treibe nach wie vor Yoga.
Angst ist der Oberbegriff für eine Vielzahl von Gefühlsregungen, deren Gemeinsamkeit auf einer Verunsicherung des Gefühlslebens beruht. [7]
Es hat Dich noch nicht überzeugt, dass Angst Dich das Größte lehren kann? Gehen wir den nächsten Schritt zu Abraham Maslow und zu seinem Modell der Bedürfnishierarchie. Stell Dir eine Pyramide vor, welche waagerecht in fünf Teile unterteilt ist. Die Grundbedürfnisse haben wir mit dem Schichtenmodell abgehandelt. Diese stehen in der Maslowschen Bedürfnispyramide ganz unten. Darüber stehen Bedürfnisse nach Sicherheit, Sozialbedürfnisse und Individualität. Ganz oben ist die Selbstverwirklichung angesiedelt [9, 10]. Unerfüllte Bedürfnisse werden zu emotionalen Schichten, welche sich im ganzen Körper abspeichern bzw. manifestieren. In meiner Vorstellung auch über die Grundbedürfnisse hinaus. Chronische Verletzungen bei Sportlern sind also häufig durch den Geist in der Bewegung heilbar oder durch spezielle manuelle Therapien, wie z.B. Chiropraktik oder Osteopathie. Für mehr Informationen siehe Die neue Medizin der Emotionen von David Servan-Schreiber. In weiteren Artikeln werde ich zu diesem Thema Bewegungen und Entspannungstechniken vorstellen.
Kennst Du den Spruch: „Ich war vor Angst gelähmt“? Nach Darwin ging es um „Fight or Flight“ – kämpfe oder flüchte. Das ist nicht die ganze Wahrheit. Angst lässt uns auch noch in weitere Zustände geraten. Nach Siegbert A. Warwitz sind es gar sechs Erscheinungsformen. Unter anderem spricht er von Paniken, wobei es sich um verschiedene Arten der Angstlähmung handelt. Als Oberbegriffe für die Auswirkungen könnte man Kampf, Flucht und Lähmung nennen. Bei Kampf und Flucht löst sich die Angst durch Bewegung. Bei der Starre verharrt die Angst im Körper und legt eine bleibende lokale Lähmung auf das Individuum nieder. Die Grundbedürfnisse, sowie zumeist auch die Sicherheitsbedürfnisse, sind heutzutage abgedeckt. Nach Maslow sind die höheren Bedürfnisse nicht zwingend zum Überleben notwendig. Um Zufriedenheit zu erlangen, müssen jedoch auch die höheren Defizitbedürfnisse erfüllt sein [9]. Einen Gegner oder jemand, der uns jagt, gibt es meist nicht mehr. Meiner Meinung nach handelt es sich dadurch heute um eine gelähmte Gesellschafft: Wir bewegen uns nur noch wenig – die „physisch emotionalen Schichten“ der höheren Ebenen nach Maslow summieren sich.
Kinder haben dort keine Angst, wo es kein Bedürfnis gibt, dass noch nicht erfüllt wurde. Sie sind meist sehr agil und beweglich.
Der Optiker empfiehlt Dir eine Brille, nachdem sich Deine Sehkraft in den Jahren bis zu einem gewissen Punkt verschlechtert hat. Aber was ist mit Deinen immer wiederkehrenden Verspannungen, die sich auch durch Massage oder Physiotherapie nur für kurze Zeit lösen lassen? Emotionen sind vergangene Gefühle, welche vom Individuum nicht gefühlt werden wollten oder konnten. Zu viele unerfüllte Bedürfnisse? Bewegung kann sie lösen. Die Angst vor dem Fühlen hält die Emotionen weiter im Körper gefangen. Die Rückkehr zum Kern bzw. zur Liebe kannst Du selbst also durch Bewegung erfahren. Ich hatte es anfangs im Leistungssport bei meinen ersten chronischen Verletzungen und Wehwehchen nicht verstanden, dass auch Emotionen im Spiel waren. Es gehörte eine ganze Menge an Selbstwahrnehmung und Mut dazu, mich selbst als Mensch zu verstehen.
Die Angst gehört zu Dir mein Freund! Nutze sie! Denn hinter der Angst verbirgt sich Dein Schatz des Lebens. Wir Menschen sind als Künstler der Bewegung geboren. Die in der Kindheit entwickelten Schichten durch nicht erfüllte Bedürfnisse, darfst Du sehen und hinterfragen. Nimm die Angst mit auf Deinen Weg, aber gehe nicht den Weg der Angst. Wenn Du weißt, warum Du dich wann wie verhältst, bist Du in der Achtsamkeit. Durch die Achtsamkeit wird Angst der Schlüssel zu Deinem Kern.
So, jetzt aber ab zu den Klingelhöfers in den Pool!
Internetquellen
[1] Sein. Und Wirken. () Das Ich, die Person: Das Modell der emotionalen Schichten. Abgerufen 02. Juni. 2020, von https://www.sein-und-wirken.ch/node/4
[2] Gr. V. Westfalen, G. () Skorbut. Abgerufen am 04.06.2020, von https://flexikon.doccheck.com/de/Skorbut
[3] Wikipedia (08.05.2020) Rachitis. Abgerufen am 04.06.2020, von https://de.wikipedia.org/wiki/Rachitis
[4] Spektrum (2000) Lexikon der Psychologie / Waisenkindversuche. Abgrufen 04.06.2020, von https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/waisenkinderversuche/16645
[5] Pontes, U. (28.03.2013) LIEBE – EIN GRUNDNAHRUNGSMITTEL. Abgerufen 04.06.2020, von https://www.dasgehirn.info/handeln/liebe-und-triebe/liebe-ein-grundnahrungsmittel
[6] Vaas, R. (2000) Angst. Abgerufen 01. Juni 2020, von https://www.spektrum.de/lexikon/neurowissenschaft/angst/641
[7] Wikipedia (2020) Angst. Abgerufen 01.06.2020 von https://de.wikipedia.org/wiki/Angst#Psychophysiologie
[8] Wikipedia (2020) Henry David Thoreau. Abgerufen 26.06.2020 von https://de.wikipedia.org/wiki/Henry_David_Thoreau
[9] Wikipedia (2020) Abraham Maslow. Abgerufen 29.06.2020 von https://de.wikipedia.org/wiki/Abraham_Maslow
[10] Wikipedia (2020) Maslowsche Bedürfnishierarchie. Abgerufen 26.06.2020 von https://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bed%C3%BCrfnishierarchie
Sehr toller Beitrag, Markus!
Liest sich so, wie Neal Donald Walsh sich anhört 😉
Mega!